- Zeit: Die naturwissenschaftlich-philosophische Sichtweise
- Zeit: Die naturwissenschaftlich-philosophische SichtweiseDie unterschiedlichen Weisen, die Zeit zu messen, beeinflussen das Lebensgefühl einer Epoche und einer Kultur tief greifend. Dass sich die qualitativ erlebte von der quantitativ gemessenen Zeit getrennt hat und die Zeit zu einem rein äußerlichen Maßstab werden konnte, ist die Folge einer geistesgeschichtlichen Weichenstellung. Die exakte Messbarkeit der Zeit, die zunächst die Entwicklung der Naturwissenschaften ermöglichte, bestimmt zunehmend auch das Alltagsleben der Menschen. Dasselbe Zeitmaß unterteilt alle Tätigkeiten wie Arbeit und Freizeit, Essen und Schlafen, Alltag und Festtag. Arbeitsleistungen sind exakt messbar und können nach dem Kriterium der Effizienz eingeteilt und bewertet werden. Die Muße, in der Antike noch Ausdruck einer selbstbestimmten, nicht auf Erwerb und Nutzen gerichteten Tätigkeit, sah man nun als Müßiggang, als unfruchtbare Vergeudung von Zeit. Das Motto »Zeit ist Geld« wurde zur Lebensmaxime einer sich am Maßstab von Effizienz und Funktionalität orientierenden Industriegesellschaft. Wie aber kam es, dass die Zeit der Uhren in den technologisch hoch entwickelten Ländern der Erde vorherrschend wurde?Die Quantifizierung der ZeitBereits im 15. Jahrhundert hatte Cusanus das Programm einer »Erfahrungswissenschaft« entworfen, das durch Galilei zur Grundlage der modernen Naturwissenschaften wurde. Mit humanitären Argumenten forderte Cusanus, dass man »alles, was messbar sei, messen müsse«: die Gerüche von Flüssigkeiten, die Frequenz des Pulses, das spezifische Gewicht von Metallen, die Intensität der Sonnenstrahlung und die Feuchtigkeit der Luft. Nur dann nämlich können verschiedene Beobachter einen Sachverhalt unabhängig von ihrem eigenen Befinden beurteilen. Um in diesem Sinn zu objektiven, allgemein gültigen Aussagen zu kommen, muss man alle Beziehungen auf das erlebende Individuum, qualifizierte Empfindungen, Motive, Ziele und Werte, abblenden. Damit eine Messung, zumindest prinzipiell, zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort wiederholt und dadurch überprüft werden kann, muss man außerdem von den einzigartigen Bedingungen einer Situation abstrahieren.Auch die Zeit konnte durch die Erfindung der mechanischen Uhr im oben erwähnten Sinne objektiviert werden. Sie wurde nun zu einem Parameter, einer rein äußerlichen Bestimmung, die mit der inneren Dynamik eines Systems nichts mehr zu tun hat. Ein Experiment von Galilei (1564 bis 1642) verdeutlicht die Herausbildung des genuin physikalischen Zeitbegriffs: »Auf. .. einem Holzbrett. .. war. .. eine Rinne von etwas mehr als einem Zoll Breite eingegraben. .. In dieser Rinne ließ man eine. .. glatt polierte Messingkugel laufen. Nach Aufstellung des Brettes wurde dasselbe einerseits gehoben, bald eine, bald zwei Ellen hoch; dann ließ man die Kugel durch den Kanal fallen und verzeichnete in sogleich zu beschreibender Weise die Fallzeit für die ganze Strecke: Häufig wiederholten wir den einzelnen Versuch, zur genaueren Ermittlung der Zeit, und fanden gar keine Unterschiede, auch nicht einmal von einem Zehnteil eines Pulsschlages. Darauf ließen wir die Kugel nur ein Viertel der Strecke laufen und fanden stets genau die halbe Fallzeit gegen früher. Dann wählten wir andere Strecken und verglichen die gemessene Fallzeit mit der zuletzt erhaltenen und. .. anderen Bruchteilen. Bei wohl hundertfacher Wiederholung fanden wir stets, dass die Strecken sich verhielten wie die Quadrate der Zeiten: und dieses zwar für jedwede Neigung der Ebene. .. Zur Ausmessung der Zeit stellten wir einen Eimer voll Wasser auf, in dessen Boden ein enger Kanal angebracht war, durch den ein feiner Wasserstrahl sich ergoß, der mit einem kleinen Becher aufgefangen wurde, während einer jeden beobachteten Fallzeit: Das dieserart aufgesammelte Wasser wurde auf einer sehr genauen Waage gewogen. .. aus den Differenzen der Wägungen erhielten wir die. .. Verhältnisse der Zeiten«.Die mechanische Uhr hatte man bereits einige Jahrzehnte vor Cusanus erfunden. Zu den ersten urkundlich belegten Uhren gehört die der Palastkapelle der Visconti in Mailand aus dem Jahre 1335. Durch mechanische Uhren konnte die Zeit in gleichförmige Abschnitte, in Stunden, Minuten und Sekunden unterteilt werden. An die Stelle rhythmischer Prozesse, die sich nur mit einer gewissen Unschärfe wiederholen, trat ein sich exakt wiederholender Takt. Um zu messen, wie viel Zeit zwischen zwei Ereignissen verstrichen ist und wie lange sie jeweils andauern, müssen sie wie in einer Linie nacheinander angeordnet werden. Ohne dass der innere Zusammenhang der einzelnen Ereignisse sichtbar wird, folgt eine Minute auf die nächste. Die Zeitpunkte unterscheiden sich nicht durch ihre Qualität und ihre Bedeutung, sondern nur durch das Intervall, das zwischen ihnen liegt und sie trennt. Das Maß der Zeit hat sich von ihrem Inhalt gelöst, sodass die Zeit als homogen erscheint. Dadurch entsteht der Eindruck, dass man alles zu jedem beliebigen Zeitpunkt tun kann, dass man alle Handlungen planen und über die Zeit verfügen kann.Die Uhr blieb kein nützliches Hilfsmittel für eine begrenzte Methode und bestimmte Zwecke. Fasziniert von der Regelmäßigkeit und Präzision, mit der die einzelnen Rädchen ineinander greifen, sah man in ihr ein Sinnbild für die Ordnung der Natur. Johannes Kepler (1571 bis 1630), der sich wie Galilei darum bemühte, Bewegungen in der Natur ohne göttliche Verursachungen zu erklären, sah in der unnachahmlichen Verlässlichkeit der Weltmaschine die Schöpferkraft Gottes. Das Universum, so schrieb der englische Chemiker Robert Boyle im 17. Jahrhundert, »gleicht einer seltenen Uhr, etwa der des Straßburger Münsters«.Während für die Antike die Technik eine Nachahmung der Natur war, wurden seit der Neuzeit natürliche Prozesse in technologischen Metaphern gedeutet. Damit vollzog sich eine empfindliche Verengung im Blick des Menschen auf die Natur und sich selbst: Um eine Uhr zu konstruieren genügt es, ihre Funktionsweise zu kennen. Ihr monotones Ticken ist ohne Empfinden für Sympathie oder Schmerz und gleichgültig gegenüber Zielen und Werten. Die Natur erschien als ein Mechanismus, der durch strenge Gesetze geordnet war; zu seiner Erklärung war der Gedanke, dass natürlichen Prozessen ein Ziel innewohnt, überflüssig geworden.Ist die Zeit also nur eine mentale Konstruktion?Mit der Durchsetzung der physikalischen Zeitkonzeption im Alltag lösten sich die sozialen Zeitbestimmungen nicht nur von den qualitativen Formen des Zeiterlebens, sondern auch von der Rhythmik der Natur ab. Vor allem zwei Theorien trugen dazu bei, dass die Zeit als eine Größe erschien, die für alle Menschen dieselbe objektive Bedeutung hat: »Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit«, definierte Newton 1687, »fließt in sich und in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgendetwas außerhalb ihrer Liegendem.«Im Unterschied zu Newton beschränkte sich Kant auf die Feststellung, dass die Zeit nur die Form des inneren Sinns sei. Nur weil die Menschen unabhängig von allen einzelnen zeitlichen Erlebnissen schon die Fähigkeit haben, Zeit wahrzunehmen, erscheint die äußere Welt in einer zeitlichen Ordnung. Dennoch ist diese allgemein gültig, da alle Menschen die Ereignisse auf dieselbe Weise anordnen. Durch die Ablösung der Zeitbestimmungen von der Ordnung der Natur erweiterte sich der Spielraum zur Gestaltung der Lebenswelt beträchtlich. Die soziale Zeit erschien als mentale Konstruktion, die sich im Prinzip beliebig den menschlichen Interessen anpassen kann.Die Zeit in der modernen PhysikAufgrund der Definition der absoluten Zeit durch Newton lassen sich alle Vorgänge auf eine universelle Zeit beziehen. Die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse (topologische Struktur) und das Zeitmaß (metrische Struktur) stehen fest. Dadurch kann man entscheiden, ob zwei Ereignisse gleichzeitig sind. Ein Ereignis, das zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet, kann nur zukünftige Ereignisse beeinflussen; ein in der Gegenwart stattfindendes Ereignis kann nicht mehr auf die Vergangenheit einwirken.Die Vorstellung einer absoluten Zeit revidierte Einstein 1905 in seiner Speziellen und 1915 in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie. Jede Zeitmessung fordert die Angabe eines Bezugssystems und ist nur in diesem gültig. Eine Zeitmessung von einem anderen System aus, das sich relativ zum ersten bewegt, führt zu einem anderen Ergebnis. In gegeneinander gleichförmig bewegten Bezugssystemen vergeht die Zeit unterschiedlich schnell. Da kein Bezugssystem gegenüber einem anderen ausgezeichnet ist, muss die Vorstellung einer absoluten Gleichzeitigkeit aufgegeben werden. Gleichzeitig sind zwei Ereignisse demnach nur in ein und demselben Bezugssystem. So hat jedes System seine eigene Zeit. Doch diese Aussage bezieht sich nur auf die gemessene Zeit; die Zeit des inneren Erlebens wird auch in der Relativitätstheorie nicht thematisiert.Nach der Allgemeinen Relativitätstheorie hängt die Raum-Zeit außerdem noch von der Masse ab, die sie enthält. In der Nähe massereicher Körper wie der Sonne ist die Raum-Zeit gekrümmt, sodass ein Lichtstrahl, der sich an der Sonne vorbeibewegt, abgelenkt wird. Misst man die Zeit mithilfe der Lichtgeschwindigkeit, dann vergeht sie umso langsamer, je stärker das Gravitationsfeld ist — relativ zu einer Uhr, die weiter von der Masse entfernt ist.Reversibilität und Irreversibilität in der PhysikIn der Physik ist die Zeit als Parameter eine eindimensionale Größe, räumlich veranschaulicht durch eine Linie. Die Gegenwart ist ein Punkt auf dieser Linie; von ihm aus kann man sich nach rechts in die Zukunft oder nach links in die Vergangenheit bewegen. Vergangenheit und Zukunft unterscheiden sich nur durch das Vorzeichen des Zeitparameters. Im Unterschied zur lebensweltlichen Erfahrung macht die klassische Physik keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ein Planet etwa kann sowohl vorwärts wie rückwärts um die Sonne laufen. Auch die Grundgleichung der Quantentheorie, die Schrödingergleichung, ist invariant gegenüber der Zeitumkehr. Lediglich der Messprozess stellt einen irreversiblen Eingriff in das System dar.Vielteilchensysteme werden in der Physik durch die Thermodynamik beschrieben. Nach dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik laufen alle spontan auftretenden Vielteilchenprozesse irreversibel ab, weil ein Teil der Energie in Wärme umgewandelt wird. Dies gilt allerdings nur für Systeme im Gleichgewicht und für isolierte Systeme, denen keine Energie zugeführt wird. Wenn offene Systeme betrachtet werden, die nicht von der Umwelt isoliert sind und durch Energiezufuhr daran gehindert werden, ins thermodynamische Gleichgewicht zu kommen, können neue Strukturen entstehen. An Bifurkationspunkten kann das System in verschiedene stabile Zustände übergehen. Welche der Möglichkeiten eintritt, wird durch winzige Asymmetrien entschieden. Dadurch verliert das System seinen deterministischen und berechenbaren Charakter. Eine Rückkehr in den Ausgangszustand wird unmöglich. Um die zeitlich asymmetrische Entwicklung von Systemen zu erfassen, hat Ilya Prigogine die reversible äußere Zeit eines Systems von seiner irreversiblen inneren Zeit unterschieden. Damit sind bereits in der Physik die Grenzen der linearen Konzeption der Zeit sichtbar geworden.Priv.-Doz. Dr. Regine KatherWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Zeit und BewusstseinGrundlegende Informationen finden Sie unter:Zeit und Ewigkeit im antiken WeltbildBergson, Henri: Zeit und Freiheit. Aus dem Französischen. Meisenheim am Glan 21949. Nachdruck Hamburg 1994.Klassiker der modernen Zeitphilosophie, herausgegeben von Walther C. Zimmerli u. a. Darmstadt 1993.Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen — Analysen — Konzepte, herausgegeben von Antje Gimmler u. a. Darmstadt 1997.
Universal-Lexikon. 2012.